Notation und Spieltechnik 2

(Forts. 1. Notationssymbole:) "Frapper" - "Rouler" - Von der Rollenverteilung - Von Gleichberechtigung, Rollentausch und Rollenverteilung  - Von der Technik des Rollens - Von der Viruosität -

2. Exemples: Von der Anwendung - Chaconne, Menuet und Folie - "Pattern" - Wichtige Anhaltspunkte zur Interpretation

3. Folie d'Espagne: Die Beziehung Castagnetten-Choreographie-Musik - Der tanzende Perkussionist - Ein "polyrhythmisches Gesamtkunstwerk"

 

 

"Frapper"

  (Frapper un coup de la main" - Einen Schlag mit der Hand ausführen)

 

 

Das Wissen um die Ausführung des Einzelschlages setzt Feuillet offenbar voraus. Mersenne nennt uns dafür den Mittelfinger, der heute fast ausschließlich für den einfachen „Golpe“ (Schlag) benutzt wird, oder „normalerweise“ – und das ist heute selten bei Konzertkastagnetten – den Ringfinger:

 

„… avec le doigt du milieu, ou avec l’annuaire, dont on se sert ordinairement“ (Mersenne)

(« … mit dem Mittelfinger, oder mit dem Ringfinger, dessen man sich üblicherweise bedient"

 

Bei der Auswertung des Bildmaterials trifft man auf eine offenbar noch verbreitetere Fingertechnik: mit 2 oder 3 Fingern gleichzeitig.

 

 Der Einzelschlag kann demnach ausgeführt werden:

- mit 1 Finger ( Mittel-, oder Ringfinger)

- mit 2 Fingern ( Ring- und Mittelfinger - häufig, Mittel- und Zeigerfinger - selten)

- mit 3 Fingern ( Ring-, Mittel- und Zeigerfinger)

 

Wobei jede Fingervariante dabei einen unterschiedlich großen Teil der Castagnette berührt und damit ihren Klang unterschiedlich dämpft. Für eine elegante Optik und ein filigranes Spiel ist die 1 – 2 Fingervariante zu bevorzugen, für eine ausbalancierte Spieltechnik zwischen allen Fingern zudem der Ringfingeranschlag ( oft genutzt in orientalischen Perkussionstechniken und ein gutes Kräftigungstraining für das „schwarze – weil schwache – Schaf“ bei den Fingerläufen ).

Der auf etlichen Abbildungen stark abgespreizte Kleine Finger könnte darauf hinweisen, daß zumindest nicht alle Castagnettenspieler die vier Spielfinger der Hand nutzten, sondern nur drei.

 

 

"Rouler"

 Von der Rollen-Verteilung bei den Castagnetten

 

 

Castagnetten-Stimme mit bevorzugter rechter Hand für die Carretillas
Castagnetten-Stimme mit bevorzugter rechter Hand für die Carretillas

Sehr eindeutig ist bei Feuillets Castagnetten-Notation die absolute Gleichberechtigung von linker und rechter Hand. Jede darf, ganz im Sinne der alten musikalischen Polyphonie, im Wechselspiel rollen und „Punkt contra Punkt“ schlagen.

Das Notenbild des 19./20. Jahrhunderts hingegen zeigt eine auffällige Bevorzugung der rechten, hohen Kastagnette für die filigrane Arbeit mit kleinen Notenwerten, während die tiefe, ganz in Anlehnung an die homofone Musikentwicklung, konstant den »Beat« liefert (ein beliebter spanischer Macho-Witz nennt diese Rollenverteilung ein Abbild der menschlichen Natur: die Frau geschwätzig, der Mann wortkarg).

 

 

Von Gleichberechtigung, Rollentausch und Rollenverteilung

Feuillets Notation mit Gleichberechtigung von rechter und linker Hand
Feuillets Notation mit Gleichberechtigung von rechter und linker Hand
8 Takte Folie "pour femme"-Choreographie (Feuillet)
8 Takte Folie "pour femme"-Choreographie (Feuillet)

Tanztechnisch gesehen birgt Feuillets notierte Gleichberechtigung der Hände eine große Logik, da im Bühnen- und Gesellschaftstanz des 17./18. Jahrhunderts kein Arm oder Bein ( bis auf wenige Ausnahmen, z.B. beim Menuett) bevorzugt, sondern die notwendigen Körperoppositionen ( z:B. rechter Arm/linkes Bein, u.u. ) dabei stabilisiert wurden.

 

Schlagtechnisch stellt die filigrane Arbeit mit der linken Hand für Rechtshänder anfangs sicherlich eine große Herausforderung dar, jedoch wird er bald merken, wie die linke Hand ihr Manko an Kraft durch unverbrauchte Geschmeidigkeit ausgleicht.

 

Neurologisch betrachtet ist der heute unbestrittene Wert einer ausbalancierten Körperarbeit, geschweige denn die Feinmotorik der auf die Gehirntätigkeit direkt einwirkenden sensorischen Fingerspitzen nicht zu vergessen!

 

 

8 Takte Folie "pour homme" -Choreographie  (Feuillet)
8 Takte Folie "pour homme" -Choreographie (Feuillet)

Es muß an dieser Stelle jedoch gesagt werden, dass diese Gleichberechtigung der Hände in jener Zeit leider keinerlei Niederschlag in der choreographischen Gleichberechtigung der Geschlechter fand: Bedingt durch die traditierte Aufführungspraxis (lange waren Frauen von der Bühne verbannt und maskierte männliche Tänzer übernahmen die weiblichen Parts) und behindert durch immense, unpraktische Kostüme (wie Reifröcke) fallen die speziell für Frauenrollen geschaffenen Choreographien oft sehr viel simpler aus.

 

Als beeindruckender Beleg dafür hier die Tanz-Notation einer Folie d’Espagne  „pour femme“ für eine Frau (oben); und „pour homme“, für einen Mann, (darunter) - jeweils die ersten 8 Takte.

 

Ob und inwiefern die geschlechtsspezifischen Tanz-Anforderungen auch beim Spielen der Castagnetten divergierten - immerhin ist Feuillets mit Castagnetten notierte Folie eine Folie „pour femme“! - lässt sich leider nicht beantworten.

 

Von der Technik des Rollens

 

 

Feuillets Regeln für das Rollen«/»rouler« – zumindest für die drei von ihm so genannten »Exemples« – lauten: Das mit dem Symbol einer halben bzw. punktierten Note und einer Art Trillerzeichen am Hals gekennzeichnete »Rollen« wird allgemein

 

 

1. offensichtlich immer direkt auf der Zählzeit angesetzt – und nicht als Vorschläge, wie später bei der »Carretilla«.

2. Es kann über einen Takt gehen; in diesem Fall setzt es immer auf der zweiten  Zählzeit ein, und kann sich dann auch über mehrere Takte erstrecken.

 

4. Es wird ohne abschließenden Schlag mit der anderen Hand praktiziert – im Gegensatz zur späteren »Carretilla«.

 

5. Es geschieht mit beiden Händen synchron!

 

6. Eine spezielle Variante des Rollens, nämlich die über mehrere Takte hinweg, wird einhändig ausgeführt, wobei die andere Hand sie mit einem Einzelschlag begleitet. Auch wenn diese Beschreibung an die aus Quintolen bestehende heutige »Carretilla seguida« erinnert, unterscheidet sie sich durch:

-   1. die Austauschbarkeit der Hände,

-   2. durch den Beginn auf der musikalischen Zählzeit und

-   3. durch eine Verdoppelung der »1« durch gleichzeitigen Einzelschlag der anderen Hand,  da sie auf der betonten Zeit beginnt.

 

Von der Virtuosität

Spätestens an diesem Punkt stellt sich die Frage, was denn spielpraktisch überhaupt unter »Rollen« zu verstehen ist und wie schnell denn wohl »gerollt« werden soll. Dazu schreibt Mersenne:

 

"Die Lieblichkeit der Kastagnetten hängt von der Hand desjenigen ab, der sie spielt, und insbesondere vom »Mouvement«, von den »Cadences«, den »Passages« und Diminutionen oder Trillern/Tremblements, die man so schnell ausführt, dass es unmöglich ist, daraus Einzelschläge zu zählen."

 

Durch diese respekt- und liebevolle Bemerkung eines so verdienten Autors läßt sich Möglichkeiten eines differenzierten und virtuosen Castagnettenspiels erahnen, die manch einer mit so archaischen Hölzchen wohl nicht für möglich halten würde. Trichet bestätigt uns dies 1640 mit seiner – für die Franzosen vielleicht entmutigend oder provozierend gemeinten – Bemerkung über die Spanier: Sie verstünden es so gut, das Spiel der Gitarre mit Kastagnetten zu verschmelzen, dass »es sich kaum lohnen würde, nach etwas Unterhaltsamerem und Perkussiverem Ausschau zu halten«.

 

Betreffend deren Virtuosität präzisiert Mersenne, dass

 

»die Geschicktesten 8 bis 9 mal die Kastagnetten in der Zeit eines Tactus schlagen, oder eines Pulsschlages, der eine Sekunde dauert, in einer Weise, dass man beinahe ebenso große Diminutionen auf diesem Instrument macht wie auf dem Spinett, und auf den anderen, deren Schnelligkeit die Vorstellung übersteigt«.

 

Diese Aussage übernimmt Furetière in seinem Dictionnaire Universel von 1690.

(Helen Chadima hat diesbezüglich im wahrsten Sinne des Wortes minutiöse Berechnungen angestellt.)

Um eine Diskussion über das »Absolute Tempo«, wie sie schon damals heftig geführt wurde, zu vermeiden, möchte ich lieber auf die jeweilige Praktikabilität verweisen, denn wir haben es mit einem – im Hinblick auf Raumakustik, Temperatur und Luftfeuchtigkeit etc. – äußerst mimosenhaft reagierenden Instrument zu tun! »Rollen« impliziert eine kreisende Bewegung der Finger, ob aber mit zwei, drei oder vier Fingern, lässt sich nicht ersehen. Wenn aber 8 mal innerhalb eines Tactus gerollt werden kann, so ist das mit 4x2 oder 2x4 Fingern machbar, bei 9 mal müssten es 3 x 3 Finger sein.

 

2. Exemples

Von der Anwendung

Als wäre es nicht schon schwer genug, hinter seinen Notationen eine praktikable Kastagnetten-Technik aufzudecken, konfrontiert Feuillet den Benutzer seines Handbuchs mit zwei weiteren Herausforderungen:

 

1. Durch den Hinweis auf verschiedene Taktangaben bereitet er auf den unterschiedlichsten Einsatz der Hölzchen vor, nämlich auf den Dreiertakt, in dem sämtliche seiner Beispiele (Chaconne, Menuett, Folia) stehen, aber auch – und das wirft ein neues und interessantes Licht auf ihre Verwendung – offenbar auch auf den Zweiertakt (z.B. Gavotte), den 4/4-Takt (z.B. Bourrée) oder den Alla-Breve-Takt (z.B. Marsch)

 

 

 

Chaconne, Menuet und Folie - "Pattern"

 

Analysieren wir die Kastagnettenstimmen der drei Beispiele von Chaconne, Menuett und Folia, so fällt auf:

 

1. Jeder Takt beginnt mit einem einzelnem Doppelschlag: (Ausnahme: ein Einzelschlag in Takt 6 des Menuetts, sowie, wenn über mehrere Takte hinweg gerollt wird).

2. Jedes Stück endet mit einem Doppelschlag:

3. Es existieren 4 taktige Rhythmus-Motive, die auch 2 taktig aufteilbar sind, die offenbar für tripeltaktige Tänze allgemein gelten. Sie bestehen aus:

 

a) einfachen Doppel- und Einzelschlägen

b) Schlägen kombiniert mit eintaktigem Rollen

c) Schlägen kombiniert mit mehrtaktigem Rollen

 

 

 

 

Wichtige Anhaltspunkte zur Interpretation

 der Feuilletschen Notations-Kurzschrift

bieten z.B.:

 

 

1. Thoinot Arbeau, 2. Marin Mersenne, 3. Jean Baptiste Lully, Tänzer, Musiker, Komponist und Musikdirektor und 4. Gottfried Taubert, Feuillets deutscher Kollege, der Tanzmeister und Buchautor:

 

1. In Thoinot Arbeaus 1588 veröffentlichten „Orchésographie, Metode et Teorie en Forme de Discours et Tablature pour apprendre a dancer, battre le Tambour en toute sorte & diversité de batteries.[…] » führt er systematisch anhand von Noten in die Diminutionstechnik einer Trommelbegleitung bei Gehen/ Marschieren ein.

 

2. 1636 beruft sich M. Mersenne im Kapitel „ Des instruments de percussion“, Abschnitt „Expliquer la Tabulature des Tambours , S.55, genau auf jenes o.g. Werk Arbeaus,

 

3. In Lullys Partitur der "Air des hautbois Les folies" findet sich eine ähnlich ausgesetzte Trommel- Stimme,

 

4. Gottfried  Taubert übersetzt im Kapitel Castagnetten das Wort "Rouler" außer mit "Rollen" auch mit "Rasseln" (ein Verweis auf die früheren, in den Händen geschüttelten Folk-Castagnetten?)

 

 

 

3. Folie d'Espagne: Die Beziehung Castagnetten-Choreographie-Musik im Folia-Beispiel

 

 

Zwar können weder spezielle Schritte, noch spezielle Armführungen den bestimmten rhythmischen Motiven der Castagnetten zugeordnet werden, jedoch gehen die musikalischen Spannungsmomente offenbar mit der spieltechnischen Herausforderung des Rollens und einer größeren Komplexität von Bein- und Armführung einher, ihre Funktion ist somit dem Trommelwirbel beim »Salto Mortale« ähnlich (bei unserem Folia-Couplet wäre das z.B. die Vorbereitung und Durchführung des »Assemblé« in Takt 11 und 12).

 

 

Was zunächst wie eine zusätzliche Erschwernis erscheint, hat einen musikalisch-praktischen Sinn: Die Rotationsbewegungen von Coude und Poignet ( Unterarm und Handgelenk) sind dem Rollen mit ihrer akustischen Eigengesetzlichkeit äußerst zuträglich, ergeben sie doch – ganz von selbst – ein Wechselspiel von Crescendo und Descrecendo, das dem Klang für den Zuhörer eine spannungsreiche Dynamik ergibt!

Folgt die Castagnettenstimme in Feuillets Menuett-Beispiel der Melodiestimme, Teil 1 wörtlich zu wiederholen, so gleicht sie sich in Feuillets Folie-Beispiel der hier durchchoreografierten Schrittfolge mit einer ebenso durchkomponierten eigenen Stimme an. Da wir auch Versionen der »Folie« kennen (siehe Solo Folie d’Espagne pour femme), die ab Takt 9 den Teil 1 nur auf die andere Körperseite spiegeln, ist dies offenbar nicht selbstverständlich!

 

 

Der tanzende Perkussionist: Ein polyrhythmisches Gesamtkunstwerk

Thoinot Arbeau
Thoinot Arbeau

Ist es bloßer Zufall, dass das Symbol für die Markierung der Tänzerfüße bei Feuillet dem heute gebräuchlichen Symbol für Paukenschlägel ähnelt? Immerhin gibt schon Thoinot Arbeau dem Marschieren mit Trommelbegleitung einen großen Raum in seinem Tanztraktat, und Mersenne verweist bei den Tanz-Castagnetten ebenfalls auf die Trommel seiner Zeit:

 

 

"[…] was die Chansons angeht, oder die Mouvements der Castagnetten, so wird man sie verstehen durch die Behandlung der Tambour-Schläge".

 

Wenn der Castagnetten-Tänzer jener Zeit - kontinuierlich begleitet von seinem eigenen Pulsschlag und vom eigenen Atemrhythmus, die Musikstruktur durch die Ohren wahrnehmend - in den musikalischen Harmonien geradezu ein Bad nimmt,

 

sie mit seinem Auf und Nieder der Schritte in »antiker Metrik« akzentuiert und strukturiert, sich mit weiten ornamentalen, maurischen Arabesken gleichenden Armführungen zwischen Pose und Fluss seinen Raum in geometrischen Proportionen ertanzt,

 

während er, mit den anderen Tänzern und Instrumentalisten rhythmisch kommunizierend, die Castagnetten schlägt ...

 

so mutiert er zu einer Art

 

"polyrhythmischem Gesamtkunstwerk".

 

 

 

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